Donnerstag, 11. September 2014

Reisebericht zum Projekt Kvartira (Wohnung) in Perm, Russland, 14.- 27.07.2014





Das Glück verbirgt sich nicht hinter den Bergen


Wie der Name „kvartíra“ schon sagt, geht es bei dem Projekt um Wohnungen – die Wohnungen von Angehörigen ehemaliger politisch Verfolgter, die aufgrund des hohen Alters nicht mehr die Möglichkeit haben, ihr Zuhause alleine auf Vordermann zu bringen. In diesem Jahr hatte sich nur eine kleine Zahl an Teilnehmern für die Renovierungsarbeiten gefunden, dadurch wurde der Kontakt aber umso intensiver und wir wuchsen zu einer richtigen Familie zusammen. „Wir“ das sind Alexandra, kurz Sascha, und Dima, die beide das Camp leiteten, Cristina, ebenfalls aus Perm half bei der Organisation, Natascha aus Jekaterinburg, Ivan aus Perm, Ibo, kurz für Ibrahim, aus der Türkei, Martyna aus Polen und ich. In der zweiten Wochen kamen noch Anna und Alexej zu unserer Gruppe hinzu. 
 
Ankommen und unterkommen
Nach einem vierstündigen Zwischenstopp in Moskau endlich in Perm angekommen, war ich zunächst überrascht, wie klein der Flughafen doch ist; aber im Großraum Frankfurt aufgewachsen, muss ich mir immer wieder ins Gedächtnis rufen, dass nur wenige Städte vergleichbare Drehkreuze sind, auch wenn die Einwohnerzahl höher liegt.

Sascha holte mich am Flughafen ab und mit dem Bus fuhren wir in die Innenstadt zum Studentenwohnheim, das für die kommenden zwei Wochen zu unserem Zuhause wurde. Auf der etwa vierzigminütigen Fahrt machte ich eine Beobachtung, die ich rein gar nicht erwartet hatte: Das Bild der Stadt erinnerte mich in fast allen Facetten an Kasachstan: der Zustand der Straßen mit den zahlreichen Schlaglöchern, die Verkehrsmittel, darunter eine große Zahl an ausgedienten deutschen Bussen, viele unschöne Plattenbauten, große Müllcontainer, in die jeglicher Abfall unsortiert geworfen wird, das Gewirr von Strom- und Tramleitungen über meinem Kopf. Nur die renovierten Altbauten, die beispielsweise von Geschäftsleuten seit der Gründung der Stadt 1723 errichtet wurden, zeigten mir, dass ich in Russland war.

Perm

Es dauerte etwas, bis wir mittags unser Zimmer beziehen konnten, da gerade Mittagszeit war und die erste Entdeckung waren dann erst mal Kakerlaken! Zum Glück nicht so groß wie neuseeländische, aber eben doch Kakerlaken. Hier sieht man schon, dass die Studentenwohnheime bei weitem nicht deutschen Standards entsprechen: bis zu vier Menschen in einem Zimmer, Duschen nicht auf jeder Etage und Toiletten, auf die man sein eigenes Klopapier mitnehmen muss, nur am Ende des Flurs mit über zehn Zimmern. Da die meisten Studenten in der vorlesungsfreien Zeit aber wegfahren, war es ziemlich ruhig und auch sonst, wäre zu bezweifeln, dass die Duschen überfüllt wären, denn jeden Sommer werden die Rohre auf den Winter vorbereitet. Was auch immer dabei gemacht wird, es bewirkt die Abstellung heißen Wassers. An unserem Ankunfstag gab es noch einen Aushang, dass es am kommenden Tag wieder Warmwasser gäbe, aber dass es sich um ein leeres Versprechen handelte, war gleich abzusehen. 

Aber ob kalte Duschen, oder Kakerlaken, die uns sogar dazu brachten, von drei Zimmern nur zwei zum Schlafen zu nutzen, es blieb immer lustig und bewies, dass die Menschen dort ganz andere Prioritäten haben und wie wenig aussagekräftig äußere Lebensumstände für die Zufriedenheit sind.
Denn mir mochten die zu reparierenden Wohnungen klein, dunkel, vollgerümpelt, verstaubt und von Grund auf reparaturbedürftig erscheinen, und mit unserer Arbeit schienen wir nur einen winzigen Teil improvisorisch und kreativ zu verändern, und den Grundzustand nur geringfügig zu verbessern, aber dabei durfte man nicht vergessen, dass alles damit anfängt, dass man ein Dach über dem Kopf hat, das nicht über einem selbst einfällt. Und wie wir mit der neuen Verkleidung aus dünnen Styroporplatten jemandem helfen, den sonst niemand interessiert, dass filmte später sogar ein kleines Fernsehteam und interviewte sowohl unsere Babuschka als auch uns Freiwillige! Babuschka ist eine liebevolle Bezeichnung für Oma im Russischen, und so nannten wir die Frauen, denen wir halfen.

Zum Essen zu gelangen, hätte nicht einfacher sein können, als aus der Tür des Wohnheims raus, gleich in die nächste rein zu gehen, hinter der sich eine öffentliche Cafeteria verbarg, in der wir Frühstück und Abendessen bekamen; generell nichts besonderes und ab und an etwas bizarre, wie zum Beispiel am ersten Arbeitstag, der wie jeder Tag natürlich mit Frühstück begann: Milchreis - ganz normal, wenn darauf nicht noch etwas Butter wäre. Naja, es schmeckt doch trotzdem und genau das erhielt ich auch zur Antwort, als ich am folgenden Tag doch fragte, was es mit der Butter auf dem Brei auf sich habe: "Es schmeckt besser!" Das zeigt, dass hier generell gerne mit viel Fett gekocht wird. Da es statt frischem Gemüse öfters Fleisch gab, vermisste ich vor allem grünen Salat. Was mich aber sehr an zu Hause erinnerte, war die Tradition, Tee zu trinken: Abends saßen wir in unserem Gemeinschaftsraum immer zusammen bei Tee und Keksen, in jedem Haushalt befanden sich auf dem Küchentisch immer Süßigkeiten und so bald man jemandes Haus betrat, wurde man zum Tee gebeten. Auch die Babuschki, zu denen wir kamen, um ihre Wohnungen zu renovieren, wollten uns morgens immer erst etwas zu essen anbieten.


Vom Abreißen, Spachteln, Grundieren, Kleben und Streichen

 Als wir am ersten Morgen in zwei Teams zu zwei verschiedenen Wohnungen aufbrachen, wusste ich, dass wir eine Decke reparieren sollten, und dass es am besten wäre, die Decke komplett neu zu verkleiden, aber Babuschka dagegen war. Obwohl wir sie nicht überzeugen konnten, war das Ergebnis am Ende sehr zufriedenstellend im Vergleich zu dem, was wir vorfanden: Kleine Tapetenstücke, die an die Decke geklebt wurden, sich lösten und dann noch mit Tesafilm zusammengehalten wurden. Noch erschreckender war dann das Bild, als die Tapete zusammen mit viel Schutt unten war und eine total unebene Decke zum Vorschein kam. Dass wir überhaupt etwas verändern könnten, davon konnten wir Babuschka wohl nur dadurch überzeugen, dass wir anfingen. Denn dass ich nicht die Größte bin, ist allgemein bekannt, und Babuschka auch gleich aufgefallen. Martyna ist auch nicht größer und Sascha als Projektkoordinatorin blieb nur für den Anfang bei uns. Ivan ist zwar auch kein Riese, aber vor allem beim Befestigen der neuen Verkleidung am nächsten Tag, wäre es ohne eine größere Person schwierig geworden.

Da man bei dem Gedanken, die Decke zu begradigen, wohl auch gleich erwägen könnte, ein neues Haus zu bauen, beseitigten wir die größten Unebenheiten. Während wir dann warteten, dass die Grundierung trocknet, nahmen wir uns der Küche an: Wände und Decke waschen. Ja, dem Material macht es durchaus nichts aus, wenn man mit einem nassen Lappen darüber geht und es wirkt wahre Wunder. Denn sollte man vergessen haben, dass die Stadt Perm ca. eine Million Einwohner zählt, erinnert man sich spätestens beim Blick auf den einst weißen Lappen daran, welchen Dreck so viele Menschen und Autos mit sich bringen. 

In der zweiten Wohnung, ebenfalls in einem typischen Wohnhaus mit brökelnder Fassade gelegen, gab es dann mehr zu tun: Decke, Wände und Fenster in Küche und Bad sollten einen neuen Anstrich bekommen, nachdem der Wasserschaden einer darüber liegenden Wohnung seine Spuren hinterlassen hatte. So wurde fleißig alte Farbe abgekratzt, gespachtelt, geschliffen, grundiert und neu gestrichen.

Es lief nicht alles wie geplant oder klappte auf Anhieb, aber wenn man mit seinem begrenzten Wissen, vor dem Problem steht, dass zum Beispiel die erste Schicht Farbe beim Auftragen der nächsten abblättert, die eigene Größe nicht ausreicht, um in allen Ecken zu streichen oder man nicht sicher ist, ob man überhaupt genug Farbe hat, bleibt einem nichts anderes übrig, als wie Ivan, Martyna und ich zusammen zu halten und zu improvisieren, um das Beste daraus zu machen. Und dass wir mit unserer wenigen Erfahrung das Beste aus Küche und Bad gemacht hatten, darüber waren wir uns nach verrichteter Arbeit einig, auch wenn wir es unserer Babuschka leider nicht mehr persönlich zeigen konnten, da sie verreist war.

Am letzten Vormittag in der Stadt halfen wir noch im Büro des Museums Perm-36. Leider ist es kein erfreulicher Grund, aus dem unsere Hilfe benötigt wurde. Denn geschlossen ist das Museum schon seit einigen Monaten und jetzt will die Stadt auch noch ein kleines Zimmer, das als Archiv benutzt wurde, wieder haben. Damit alle Dokumente und Bücher im Museumsbesitz bleiben, halfen wir dabei, Kisten aus einem Zimmer ins andere zu schleppen. Da sich das Büro im Sozialamt der Stadt befindet, und es am Eingang eine Wache gibt, die natürlich erst mal genau wissen wollte, was wir denn dort verloren hätten, wusste man genau, man hat die russischen Bürokratie und Verwaltung vor sich, genauso wie man sie sich vorstellt.

Museum Perm 36

Sich erinnern an die Vergangenheit, denn sie prägt die Gegenwart, in der wir unsere Zukunft gestalten - ohne den nötigen Spaß zu vergessen
Perm ist bekannt für die vielen Gulags, die es hier gab, und um ehemalige politische Insassen kümmert sich die Menschrechtsorganisation Memorial. Memorial pflegt aber auch das einzige Gulag, das zu einem Museum umgebaut wurde. Dieses Museum ist international bekannt, aber seit dem Frühjahr geschlossen, Wasser und Elektrizität wurden ihnen schon früher abgedreht. Am letzten Wochenende sollten wir trotzdem dort hinfahren und ich hatte mich schon seit meine Entscheidung, nach Perm zu fliegen, feststand, sehr darauf gefreut. Dort sollte auch ein anderes Freiwilligenprojekt stattfinden. Die Freiwilligen kamen an, aber das Projekt wurde von der neuen Direktorin abgesagt. Das Festival Pilorama, das auf dem Museumsgelände das letzte Mal 2012 mit tausenden Teilnehmern stattfand, musste bereits im vergangen Jahr wegen Budgetkürzungen abgesagt werden und in der diesjährigen Situation war an ein großes Festival überhaupt nicht zu denken.

Denn die Arbeit von Memorial, die sich für ehemalige Opfer politischer Repressionen einsetzen und Youth Memorial, die Organisation, die das Camp veranstaltet, spiegelt leider nicht das Denken der russischen Mehrheit wieder. Viel mehr erhält Putins Regierung immer mehr Rückendeckung, in dem sie außenpolitische "Stärke " zeigt. Innenpolitisch wird diese Macht dann dazu ausgenutzt, immer mehr Verbote zu erlassen und die Arbeit von NGOs zu behindern. In diese aktuelle politische Situation gewährte uns der Vorsitzende von Memorial, Robert Latypov, einen lebhaften Einblick, und erklärte in welch schwieriger Zeit unser Camp stattfand.  

Robert Latypov

Wie immer im Leben ist es so einfach, all das zu vergessen, vor allem sich dem Politischen nicht mal zuzuwenden, wenn nur so einseitig wie im russischen Fernsehen berichtet wird. Denn ist man nicht direkt involviert, könnte man im späten Sonnenschein auf einer Hausdachparty fast glauben, die Welt sei so voller Friede und Freude, dass es Zeit für Eierkuchen sei.

Hausdachparty, genau das bedeutet es in die Secret Bar in Perm zu gehen. Im sechsten Stockwerk auf einer Dachterrasse zu stehen, Livemusik zu hören und selbst um zehn Uhr abends noch in wärmenden Sonnenschein gehüllt zu sein. Daran hatte ich vor meiner Reise nämlich gar nicht gedacht, dass ich mich so weit in den Norden begab. Schon in Moskau am Flughafen wunderte ich mich, dass es so früh hell zu werden schien, und dann dämmerte es mir im wahrsten Sinne des Wortes. Im Juli sind die Tage in Perm nicht mehr so lang wie im Juni, aber es war immer noch so ungewöhnlich, dass es mich auch am Ende der zwei Wochen noch jeden Abend begeisterte.

Auf dem Hausdach, rustikal mit Paletten und Sitzkissen eingerichtet, konnte man mal so richtig die Seele baumeln lassen. Das total Erstaunliche, man könnte dieses Dach eine kleine isolierte Welt der Jugend nennen, die so in jedem anderen westlichen Land zu finden wäre, denn dass man in Russland ist, merkt man da oben nicht mehr. Die gleiche Art sich zu kleiden, die gleichen Sonnenbrillen, die gleiche Art zur gleichen Musik ein bisschen mit zu wippen, da bleibt nur noch die Frage, ob dieses kleine friedliche Universum irgendwann nicht nur in westlichen Ländern anzutreffen sein wird, sondern weltweit die Gemeinsamkeiten überwiegen werden, sodass diese Dachterrasse auf dem Erdboden Realität wird und wir nur noch gemeinsam tanzen. Tja, um realistisch zu sein, ich glaube nicht an ein solches Bild, aber gleichzeitig bin ich optimistisch, im Kleinen etwas tun zu können und so werde ich weiter Wände spachteln, Decken grundieren und färben. Um der Welt ein anderes Gesicht zu verpassen, muss man irgendwo mit dem Anstrich beginnen!

Secret Bar

Es ist aber keineswegs unmöglich dem alltäglichen Treiben, der Aufregung und dem Stress auch mitten in der Stadt zu entkommen, wie ich an einem Nachmittag in einem katholischen Kloster ganz nah an unserem Studentenwohnheim erleben konnte. Cristina ist mit den Nonnen befreundet und nahm uns zu einer Gebetsstunde mit (wie die korrekte Bezeichnung ist, erfuhr ich nicht). In einem kleinen Raum mit Altar beteten vier Frauen über eine Stunde lang am Boden, kniend oder im Schneidersitz sitzend, auf Englisch! Denn das Kloster scheint wie wir eine zusammengewürfelte Gruppe zu sein; wir sprachen mit zwei Nonnen, eine aus Indien und die andere aus Polen. Die Lieder und Gebete wurden immer nicht nur einmal, sondern sehr oft gesprochen, dadurch wurde das Englisch zwar nicht unbedingt verständlicher, aber auch wenn ich mit Religion wenig am Hut habe, war es einfach nur beruhigend, die Welt draußen vor der Tür vorbei ziehen zu lassen und den monotonen Stimmen zuzuhören. Ich mag der katholischen Kirche kritisch gegenüber stehen, aber Fakt ist, dass diese Frauen von einer wundervollen Güte und Herzlichkeit waren und alles Negative, das man mit dem Vatikan verbindet, einfach nur weit weg erschien. Ich war ehrlich überrascht, dass Martyna und ich als völlig Fremde mit unseren Familien sofort ins Gebet eingeschlossen wurden. Zum Abschluss bekamen wir sogar einen kleinen Mutter Theresa Anhänger geschenkt - für mich einfach ein kleines Stück Erinnerung.

Nach dem Abendessen ging es mit der Entspannung weiter, denn es ging in die Banja, die russische Sauna. Besonderes Highlight war natürlich, eine heiße Dusche zu haben, da es im Wohnheim wie erwartet immer noch kein warmes Wasser gab.  Später in der Woche gingen wir noch in eine andere, größere Banja - und größer meint, dass in dem Waschraum nur für Frauen 70 Personen Platz haben. Zum Glück war es aber überhaupt nicht voll und das beste war, dass Cristina und ich uns, wie es üblich ist, noch gegenseitig mit dem Wenik abgeschlagen haben. Ein Wenik ist einfach ein kleines Bündel Tannenzweige, es kann auch Birke oder Brennnessel sein, das in heißes Wasser getaucht wird. Bei den leichten Schlägen auf Arme, Beine und Rücken spürt man regelrecht, wie der Dampf vom Körper aufsteigt und ein herrliches Gefühl erzeugt! Vor allen Dingen, weil man sich immer noch kerndurchgewärmt fühlt, selbst wenn man sich danach unter die kalte Dusche stellt und anschließend nach draußen in die Kälte begibt.

Samstagmorgen standen wir im strömenden Regen an der Bushaltestelle - und konnten unseren Atem sehen! In einem alten deutschen Bus, die man zahlreich antrifft, ging es über eine Stunde lang raus aus der Stadt, Richtung Norden nach Khokhlovka. Khokhlovka ist ein Freilichtmuseum, in dem alte Holzhäuser aus der Region aus dem 17.-20. Jahrhundert rekonstruiert bzw. teilweise Originale wieder aufgebaut wurden. Der Park ist wunderschön am Kamastausee gelegen. Unser erster Eindruck beim Blick aus dem Busfenster war, dass wir auch am Meer sein könnten! Obwohl das Wetter sich kaum besserte, wir uns am Eingang mit Regenponchos ausstatteten und ziemlich schnell nasse Füße hatten, hatten wir einfach eine Menge Spaß. Größtenteils waren die Gebäude leer, aber in anderen konnte man durch kleine Türen eintretend das Leben von früher entdecken. Und auch wenn es sich bestimmt in vielen Einzelheiten vom Leben in Mitteleuropa unterscheidet, habe ich mich sehr an den Hessenpark erinnert gefühlt. Für mich zeigt das auch einfach, dass wir trotz zahlreicher Unterschiede alle Menschen sind, in jeder Zeit alle ähnliche Probleme zu lösen haben und gleichzeitig nicht nur Kommunikation, sondern wahre Freundschaft über diese Unterschiede hinweg möglich ist. 

Ausgestellt waren nicht nur einfache Häuser, sondern auch eine Kirche und die verschiedenen Gebäude eines Salzwerks - alles aus Holz! Außerdem habe ich eine sehr interessante Pfeiffe aus Ton in der ursprünglichen, traditionellen Form eines Vogels gekauft, auf der auch musikalisch weniger Begabte wie ich mehr als nur einen Ton produzieren können.
Es war toll, entspannend und erfrischend, mal aus der Stadt rauszukommen und mehr von diesem riesigen Land zu sehen, von dem ich aus dem Flugzeug schon eine Ahnung bekam.
 
Zurück in Perm, hörte das Programm natürlich nicht auf: Mirna, eine Kroatin, die hier ein Jahr als Freiwillige für Memorial gearbeitet hat, lud uns zu ihrer Abschiedsfeier ein. Ein lustiger Abend, bei dem es viel zu essen und natürlich auch das ein oder andere Glas zu trinken gab. Dort lernte ich auch weitere einheimische Freiwillige kennen, die in ihrer Freizeit Babuschki besuchen, sich mit ihnen unterhalten und im Haushalt helfen. Besonders interessant war die Begegnung mit einem Homosexuellen, der sogar in einer Gay-Bar arbeitet. Das Interessante war, dass er meine Frage, ob ihm die aktuelle homophobe Stimmung in Russland Angst mache, verneinte, aber hinzufügte, dass er trotzdem mit dem Gedanken spiele, deswegen auszureisen.

Sonntag ließen wir dann ruhig angehen - mit einer kalten Dusche. Natascha, Alexej, ein Bekannter von ihr, und ich spazierten auf der touristischen grünen Linie durch die Stadt. Sie führt an verschiedenen historischen und bedeutenden Gebäuden vorbei und vor jedem befindet sich ein Schild mit Erklärungen auf Russisch und Englisch. Ich musste jedoch sehr schmunzeln, als in einer der Erläuterungen Wikipedia als Quelle angegeben war. Entgegen der eigentlichen Laufrichtung kamen wir unter anderem an den Häusern bedeutender Kaufleute, an Museen (PERMM, die bekannte contemporary art gallery wurde aber restauriert, und war somit geschlossen), am Bahnhof, vor dem sich ebenfalls eine Baustelle befindet, an der Oper (leider ist die Saison vorbei; ich wäre zu gerne in Russland ins russische Ballett gegangen), an der Schule für Choreografie und Tanz, eine der bedeutendsten des Landes, und am Bären, dem Wahrzeichen der Stadt vorbei. Auch an einem schönen blau-weißen Gebäude, das in Dr. Zhivago Erwähnung findet, ging unser Weg vorbei. Aber die lustige, zugleich traurige, einfach russische Erscheinung all dieser Gebäude äußert sich darin, dass sie meist schon öfters restauriert wurden und die Fassaden trotzdem schon wieder bröckelten oder sogar mit Graffiti besprüht waren. Typisch Russland sind auch total alte, zerfallende Häuser, in denen immer noch Menschen wohnen, direkt neben neuen, mehrstöckigen Glasbauten. 

Perms Wahrzeichen

So ein langer Spaziergang kann dann schon mal müde machen, und so passte es umso mehr, dass für den Abend unser interkulturelles Abendessen auf dem Programm stand: Ibo bereitete Couscous nach türkischem Rezept zu, Martyna kochte einen polnischen Borschtsch, Cristina schmierte Brote mit frischen Tomaten und Olivenöl nach spanischem Vorbild, wir hatten russische Salate und ich bereitete Kaiserschmarren zu. Zum Kochen hatten unsere Campleader die notwendigsten Utensilien mitgebracht, da die Küche des Studentenwohnheims mit nichts außer Herdplatte und Ofen ausgestattet war. Deshalb wird bei folgendem Kommentar jeder schmunzeln, der meine perfektionistischen Backgewohnheiten kennt: "Du bist in Russland, also miss in Bechern!"  Auch wenn  es ein österreichisches Gericht ist und ich statt einer Waage nur Becher hatte, waren selbst Rosinenhasser davon begeistert. 

An musikalischer Untermalung mangelte es dann auch nicht: Cristina spielte Gitarre und sang nicht nur auf Russisch und Englisch, sondern auch auf Polnisch mit viel ergreifender Emotion. Ganz andere Musikrichtungen gab Mischa als Vocalist wunderschön zum Besten. 

Damit war dann auch schon die erste Woche vergangen, mit einer ganzen Hand voll neuer Eindrücke und Freunde, sodass man den Gedanken, dass es in nur weiteren sieben Tagen wieder nach Hause gehen sollte, gar nicht aufkommen lassen wollte.

Bevor das Abschlusswochenende begann, kann ich von einer ruhigeren Woche als der ersten reden, da wir es uns abends öfters einfach mit Tee in unserem Gemeinschaftsraum gemütlich machten. Das Wetter war nämlich weiterhin nicht gerade sommerlich. Am Mittwoch hatten wir deshalb umso mehr Glück, als die Sonne sich hin und wieder zeigte, weil wir im Observatorium einen Blick durch ein in der DDR hergestelltes Teleskop auf sie werfen konnten! Astronomie werde ich deswegen jetzt kaum studieren, aber interessant war es trotzdem, man konnte nämlich auch die Sonnenflecken erkennen.

Was wesentlich näher liegt als die Sonne, sind natürlich Geschäfte, in die ich auch mal einen Blick werfen musste, aber da ich sowieso nicht so viel Platz im Rucksack hatte, war die Tatsache, dass der Kleidungsstil russischer Frauen, den man auch auf deutschen Straßen des Öfteren beobachten kann, nicht dem meinen entspricht, umso besser. Für Russen ist das äußere Erscheinungsbild sehr wichtig, sollte möglichst fein und schick sein, und so kam ich mir auch schon mal in ganz normaler Alltagskleidung beim Gang durch die Stadt underdressed vor. Aber natürlich sind nicht alle begeistert von der Vorstellung, vor allem als Frau immer schön aussehen zu müssen. Ich traf nämlich zwei Germanistik-Studentinnen, für die das eine der Sachen ist, die ihnen so gut an Deutschland gefallen, dass man auch mal in seiner verstaubten Arbeitskleidung in den Supermarkt gehen kann, ohne schief angeschaut zu werden.

Russischer Süßigkeitenladen

Anstatt eines großen Einkaufsbummels, der – hätte ich ihn durch ein Einkaufszentrum gemacht – aufgrund gleicher Läden in fast jedem anderen Industrieland genauso hätte stattfinden können, bin ich dann lieber noch durch die staatliche Kunstgalerie geschlendert und hab mir die berühmten Holzfiguren der finno-ugrischen Völker angeschaut. Nun ja, religiöse Holzfiguren eben, aber das besondere an ihnen ist, dass in der orthodoxen Kirche dreidimensionale Abbildungen eigentlich verboten sind, es den Einheimischen bei der Missionierung aber erlaubt wurde, um den Übergang zum neuen Glauben einfacher zu machen.

Glaube hin oder her, abends stieß auch Ibo, der Moslem ist, mit uns an, denn bei Gatsby's gibt es neben sehr leckeren Cocktails natürlich auch nichtalkoholische Getränke. 

Donnerstag beendete meine Gruppe schon die Arbeit in unserer Wohnung und es war auch schon unser erster gemeinsamer letzter Abend. Martynas Reise ging am nächsten Tag nämlich weiter auf den Baikal. Da uns die Stadt den Abschied heißem Wasser nicht wärmer machen wollte, ging es noch ein letztes Mal in die Banja!

Aus der Stadt raus in Richtung Chusovoy ging es dann am Freitagnachmittag. Im Kleinbus landeten wir auf der holprigen Straße natürlich im Wochenendverkehr, die Zeit nutzten aber alle gern für ein Schläfchen.
Chusovoy ist sowohl der Name eines Flusses als auch einer Stadt nordöstlich von Perm. Außerhalb befindet sich ein ethnographisches Freilichtmuseum, in das das Freiwilligenprojekt der anderen Gruppe, das ursprünglich in Perm-36 stattfinden sollte, verlegt wurde. Neben dem Museum befindet sich ein Olympia-Skipark, alles idyllisch und still im weiten, waldigen Russland gelegen. 

Vom anderen Lager wurden wir mit offenen Armen in einem großen hölzernen Ferienhaus aufgenommen und mit Isomatte und Schlafsack ausstaffiert. Da wir nun über 20 Freiwillige waren, hatten die Mädels, die kochten, einiges zu tun. Dass das Abendessen aber erst später serviert wurde, machte mir nichts aus, weil wir die Zeit zum Fußballspielen nutzten und ich nach zwei Wochen endlich wieder ein bisschen Sport machen konnte. Dabei zeigte sich mal wieder Ivans sehr respektvoller Umgang mit Mädchen, als er meinte: "Ich kann nicht gegen sie kämpfen!" Es wurde trotzdem ein gutes und lustiges Spiel.

Nach dem Abendessen fing der Abend aber erst richtig an! Eigentlich hätte an diesem Wochenende das Festival und Diskussionsforum Pilorama auf dem Gelände des ehemaligen Gulags stattfinden sollen. Budgetkürzungen forderten aber, dass es schon im vergangegen Jahr nicht umgesetzt werden konnte. Da es für die Musiker und Memorial aber ein wichtiges Ereignis bleibt, das nicht einfach von der Bildfläche verschwinden darf, entschlossen sich zwei Solisten mit Gitarre, die auch die bekannten Bardenlieder spielten, trotzdem für uns aufzutreten. Gekrönt wurde das Konzert von Blues-Cobicednik, die mit Gitarre, Mundharmonika und E-Violine das Haus bis halb vier morgens zum Beben brachten! Es war eine tolle Atmosphäre und gute Musik, aber das Bewusstsein, über den politischen Hintergrund des gesamten Aufenthalts und die Tatsache, dass diese wenigen Menschen, von denen ich ein Teil war, das sind, was von einem Festival mit mehreren tausend Besuchern übrig ist, stimmte nachdenklich und mulmig. Immerhin standen die Musiker nur für uns im gleichen Stau, weshalb alles so spät wurde.

Nichtsdestotrotz hieß es um halb zehn aufstehen, und mit anpacken: Am Ende der Skipiste musste ein Graben mit etwa handballgroßen Steinen und Brocken gefüllt werden. Wieso auch immer, wurden sie aber nicht direkt an den Graben geliefert, sondern ca. 7 Meter davor häufte sich der Haufen. Zu zwölft in zwei Ketten im Matsch stehend reichten und warfen wir so anderthalb Stunden lang Steine. Aber im Vergleich dazu, was drei Mädels mit einer Schubkarre schaffen, war das recht ineffizient! Außer Natascha, Cristina und mir halfen dann nämlich alle mit beim Heu. Mit der schweren Schubkarre teilweise im Nieselregen über die unebene Wiese zu rennen, war zwar wesentlich anstrengender, aber auch sehr amüsant. Ziemlich schnell hatten wir nämlich unsere Technik im Beladen, Schieben und Lenken raus und der Berg wurde merklich kleiner. Und es war einfach toll, wie in Neuseeland mal wieder an der frischen Luft zu arbeiten!

Nach dem Mittagessen und einer heißen(!) Dusche wieder etwas zu sich gekommen, erhielten wir noch eine Führung durch das Freilichtmuseum. Im Gegensatz zu Khokhlovka waren hier die Holzhäuser aus dem Ende des 19. Jahrhunderts nicht leer, sondern voller Originalausstattung, die nicht nur angeschaut, sondern auch angefasst werden durfte. Von Bügeleisen, Töpfen, Schuhen, Skiern, Musikinstrumenten bis hinzu Spielzeug war alles dabei und ich war begeistert wie ein Kind - vor allem das alte Karussell hatte es in sich! Bei einem anderen Vergnügungsgerät, das eine fünf Meter hohe Stange ist, an deren oberen Ende such eine drehende Scheibe befindet, von der drei Seile bis auf Kniehöhe hängen, meinte ich es zu gut mit der Schwerkraft und wurde nach einem Höhenflug dann doch auf dem Bauch über den Boden geschleift. Ein Loch in der Hose mindert den Spaß für mich trotzdem nicht.

Spaß und Verwirrung gab es an diesem Wochenende auch noch mal für mein Sprachzentrum, denn es waren mehr Deutsche um mich und es hieß nicht nur zwischen zwei, sondern zwischen drei Sprachen umschalten! Es ist aber toll, wenn man alle versteht und für manche haben die zwei Wochen zum ehrgeizigen Entschluss geführt, Russisch oder Englisch zu lernen. Einen musikalischen Abschluss fand auch dieser Abend, denn Cristina holte wieder ihre Gitarre raus und sang auf Russisch, Englisch und Polnisch.

Unser letztes Ziel am Sonntag hatte dann wieder eine ganz andere Ernsthaftigkeit: Nach einigem hin und her wurde uns schließlich doch der Besuch von Perm-36 ermöglicht.
Der Ort des ehemaligen Straflagers selbst ruft schon eine eigene Atmosphäre von Leid, Hunger und Tod hervor und wie passend dazu war auch der Wind eiskalt und schneidend und selbst in den windgeschützten Baracken konnte ich mich in meinen drei Schichten nicht aufwärmen. So als wäre die emotionale Kälte und Härte von früher immer noch präsent. Und dabei der ständige Gedanke, dass die tausenden Häftlinge dem nicht nach einem halben Tag entfliehen konnten, sondern über Jahre hinweg, tagtäglich körperliche Schwerstarbeit leisten mussten. 

Perm 36

Was es aber erst zu einem unvergesslichen Besuch machte, war die Führung, durchgeführt vom Vorsitzenden von Memorial, Robert Latypov. Durch seine Darstellungen des Lebens in der Straflagerzone und einzelner Schicksale wurde dieses Stück Geschichte greifbarer. Aber in naher Zukunft, eigentlich heute schon wird es für niemanden mehr so erlebbar sein, denn Robert äußerte gleich zu Beginn seine Befürchtung, dass dies seine letzte Führung über das Gelände sein könnte.

Perm 36

Und da war es wieder, dieses Bewusstsein über die aktuellen politischen Hintergründe, die man doch nicht durchschauen kann, obwohl man irgendwie im Kleinen schon ein Teil des Ganzen ist. Aber Fakt ist, dass dieses einmalige Museum erhalten bleiben muss, dass diese Erinnerungen weitergegeben werden müssen!
Schließlich war dann die Zeit gekommen, in die Gegenwart und nach Perm zurückzukehren, ein letztes mal gemeinsam Kaffee und Tee zu trinken, bevor es für mich Zeit wurde „Do swidanja!" zu sagen. Denn Eines ist sicher, ich möchte nicht nur meine neuen Freunde wiedersehen, sondern auch mehr von diesem auf unzählige Arten faszinierenden Land entdecken! Während ich es früher nämlich nicht besonders mochte, nur als die Russin abgestempelt zu werden, freute es mich ehrlich, als ich nicht nur vom Äußeren her als Russin bezeichnet wurde, sondern mit dem Argument und der Eigenschaft, ich hielte schwere Umstände gut aus. Damit kann ich den Schluss ziehen, dass mein Vorhaben, eigene Vorurteile zu überwinden, in dem man einfach in das entsprechende Land reist, erfolgreich, lehrreich und spannend war!

Petition zum Erhalt der Gedenkstätte Perm-36:

Internationale Gesellschaft für Menschenrechte: 

www.menschenrechte.de


Zur Person
Anita Ni, geb. 1995 in Almty, kam im Alter von drei Jahren nach Deutschland. Nach dem Abitur 2013 bereiste sie fünf Monate lang Neuseeland, absolvierte anschließend einen halbjährigen Bundesfreiwilligendienst bei der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM) und nimmt im Oktober 2014 ein Studium der Umweltingenieurswissenschaften in Aachen auf.